Norbert Thiemann

Norbert Thiemann hat als Geschäftsführer des Artlenburger Deichverbandes schon viele kritische Situationen erlebt. „Glücklicherweise haben unsere Deiche immer gehalten“, sagt er. Er ist die Konstante im ADV. Seit 1974 führte er bis Ende 2017 die Geschäfte. Mit seiner langen Erfahrung gehört er zu den gefragtesten Experten, wenn es um Deiche, Deichbau und Hochwasserschutz an der Elbe geht. Als Kind des Ruhrgebietes fand er durch Zufall den Weg von Oberhausen-Sterkrade nach Lüneburg. Über die Stationen Bundesgrenzschutz und Wasserwirtschaftsamt kam er zum Deichverband, dem er auch nach seiner Pensionierung treu geblieben ist, weil ihm die Tätigkeit ans Herz gewachsen ist.

„Deichvogt? Ich wusste am Anfang gar nicht genau, was das ist!“ Das sollte sich für Norbert Thiemann schnell ändern. Nur wenige Monate nach Beendigung seiner Ausbildung beim damaligen Wasserwirtschaftsamt in Lüneburg zum Deichvogt lief im Winter 1974 ein Jahrhunderthochwasser in der hiesigen Elbe-Region auf. Die Hochwasserwelle erreichte am 19. Dezember am Pegel Hohnstorf den Wert von 8,19 Meter über Normalnull. Besonderheit: Eine Sturmflut war einen Tag zuvor auf die ablaufende Hochwasserwelle getroffen. Der damals 24-Jährige war tagelang an vorderster Front rund um die Uhr im Einsatz, musste Entscheidungen zur Sicherheit von Land und Leuten treffen. „Da musste ich sprichwörtlich ins kalte Wasser springen und habe zum ersten Mal die Ur-Gewalt des Wassers kennengelernt“, sagt Thiemann. Das Ereignis hat ihn sehr geprägt. Zumal er in einer dieser Nächte im Einsatz auf dem Gebiet des Landkreises Lüchow-Dannenberg auch großes Glück hatte. Übernächtigt und abgelenkt fuhr er „an winkenden“ Feuerwehrkameraden auf dem Weg nach Hause seinen Pkw direkt in die am Deich stehende „Wassermauer“. „Gott sei Dank war schnell Hilfe da.“ Feuerwehrleute zogen das im Wasser stehende Fahrzeug von Thiemann zurück auf den Deichverteidigungsweg.

Durch Zufälle ist Thiemann in den Norden gekommen. Geboren 1950 und aufgewachsen in Oberhausen-Sterkrade in Nordrhein-Westfalen, absolvierte der heutige Geschäftsführer des Artlenburger Deichverbandes erst die Volksschule und begann dann eine dreijährige Maschinenschlosserlehre bei der Gutehoffnungshütte. Im Anschluss arbeitete er dort auch als Geselle, ehe er sich freiwillig zum Wehrdienst meldete. 

Dabei interessierte ihn der Dienst beim Bundesgrenzschutz mehr als die Bundeswehr. Den dreitägigen Eignungstest für den BGS in Hannover bestand er, an seinem Wunschstandort Bonn war aber keine Stelle frei. Er musste in den Norden. Als Standorte wurden Walsrode, Uelzen, Bodenteich oder Gifhorn benannt – es wurde Lüneburg. „Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet“, sagt Thiemann. 

In Lüneburg trat er seinen zweijährigen Dienst am 1. Juli 1969 an. „Das war schon eine Umstellung für mich als 19-Jähriger zwischen dem Leben in meiner Heimatstadt Oberhausen im Ruhrgebiet und dem beschaulichen Lüneburg in der Heide-Idylle“, sagt Thiemann und ergänzt lachend: „Fast jedes Wochenende bin ich mit Kameraden aus dem Ruhrgebiet wieder gen Westen gefahren, unser Opel Kadett war fast immer mit fünf Mann voll besetzt.“ 

Der Zufall wollte es, dass der als Fernmelder im Einsatz befindliche BGS-Mann dann doch Wurzeln in der Heide schlug. Er lernte 1970 beim Tanzen im Gasthaus Zum Anker in Bardowick seine aus Diersbüttel stammende Renate kennen – und lieben. 1971 zogen die beiden, die mittlerweile seit 43 Jahren verheiratet sind und zwei erwachsene Kinder haben, in Amelinghausen zusammen. Thiemann verlängerte seine Dienstzeit um zwei Jahre. Während dieser Zeit besuchte er parallel die interne Verwaltungsschule beim BGS für einen späteren beruflichen Wechsel. „Ich wollte auf jeden Fall etwas anderes machen als nur Bundesgrenzschutz.“ 

In der Grenzschutzfachschule sah Norbert Thiemann eine Stellenausschreibung als Deichvogt beim damaligen Wasserwirtschaftsamt in Lüneburg. Er überredete seine Freundin Renate, für ihn beim Amt anzurufen und nachzufragen, ob er sich bewerben solle. Noch am gleichen Tag wurde er zur Vorstellung eingeladen. In Uniform meldete er sich zum Gespräch – 15 Minuten später hat der die Zusage durch Helmut Bockelmann, den späteren Bürgermeister der Gemeinde Scharnebeck.

„Heutzutage ist das wohl kaum mehr möglich“, sagt Thiemann lachend. 

Am 1. Juli 1973 begann er seinen Dienst als Angestellter beim Wasserwirtschaftsamt in Lüneburg, wurde dort zum Deichvogt ausgebildet und arbeitete sich mit „Bücher wälzen“ in die Materie ein. Aufgrund seines vorherigen Werdeganges betrug die verkürzte Lehrzeit nur neun Monate. Im Oktober 1974 folgte daher schon die Ernennung zum Deichvogt als technischer Beamter des Landes Niedersachsen – und gleich darauf im Winter der erste harte Einsatz an der Elbe. 

Zahlreiche Hochwasser-, Sturmflut- und Eishochwasserereignisse folgten. Norbert Thiemann hat dabei viel erlebt. „Glücklicherweise haben unsere Deiche immer gehalten.“ 1995 wäre es beim Hochwasser in Stiepelse (Amt Neuhaus) fast zu einem Deichbruch gekommen. „Ein altes Siel-Bauwerk befand sich im Deichkörper und keiner hatte über die Anlage Informationen. An der Binnenböschung strömte Wasser aus dem Deich.“ Erst durch den Bau eines Fangdammes konnte die Gefahr gebannt werden. 

Großen Respekt hat Thiemann vor allem vor Eishochwasser. „Bei diesem Fall sind wir am Ende unserer technischen Fähigkeiten trotz der rasanten Entwicklung im Deichbau. Dann hilft nur noch Gottvertrauen.“ Bei Eisversatz steigt der Wasserstand innerhalb von 24 Stunden um mehr als zwei Meter. Ein ganz besonders Ereignis war für ihn die Öffnung der innerdeutschen Grenze 1989. Schon in den ersten Tagen suchte er den Kontakt mit den Berufskollegen der Flussmeisterei Boizenburg. Die luden Thiemann sogar zu einer Fahrt auf dem Kolonnenweg auf dem Deich mit Blick durch den Grenzzaun nach Westen ein. „Da hatte ich Tränen in den Augen, denn da wurde deutlich, wie die Bürger auf der anderen Seite der Elbe jahrzehntelang eingesperrt waren.“

Millionen D-Mark und heute Euro wurden seit dem groß angelegten Deichausbau-Programm von 1974 in die Sicherheit und in den Ausbau der Deiche investiert. Mittendrin war und ist immer Norbert Thiemann. Er gehört mit seiner mittlerweile mehr als 40 Jahre langen Erfahrung zu den gefragtesten Experten, wenn es um Deiche und Deichbau geht. 

„Nebenbei“ engagiert sich der gebürtige Oberhausener seit 1981 in der Kommunalpolitik, sitzt seitdem durchgängig für die CDU im Gemeinderat Amelinghausen und ist auch seit 18 Jahren Bürgermeister des Heideortes. Ehrenamtlich engagiert er sich seit mehr als 30 Jahren auch im Heideblütenfestverein Amelinghausen. Entspannung findet der 65-Jährige vor allem bei Bus-Reisen und Fahrradtouren mit Freunden quer durch Deutschland, die er auch organisiert. 

Viel Zeit verbringt er zudem mit seinen Enkelkindern Julius und Vincent. Seinen ursprünglich Beruf Deichvogt gibt es mittlerweile gar nicht mehr. Nach 250 Jahren staatlicher Deichaufsicht ging diese hoheitliche Aufgabe gleichbedeutend mit Reformen der Wasserwirtschaftsverwaltung Ende der 1990er-Jahre auf die Fachdienststelle der Landkreise und im Rahmen der Eigenverantwortung auf die jeweiligen Deichverbände über. Für den Artlenburger Deichverband ist Norbert Thiemann  seit 1984 in der Geschäftsführung und seit 1994 als Geschäftsführer tätig. Eine Arbeit, die ihm „unheimlich viel Spaß und Freude bereitet.“ Er lobt vor allem den „tollen Gemeinschaftssinn und die Solidarität untereinander“ im Verband. 

Mehr als 30 000 Kilometer ist er jährlich für den Schutz von Land und Leuten am Deich unterwegs. Seit 31. Juli 2015 ist Norbert Thiemann im Ruhestand. Er hat seinen Dienst bei der Betriebsstelle Lüneburg des NLWKN (Niedersächsischer Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz) beendet. Die Tätigkeit als Geschäftsführer beim Artlenburger Deichverband führt er aber fort. „Die ist mir ans Herz gewachsen.“